Dr. Ulrich Kriese: „Erbbaurecht trifft auf schweizerische Konsenskultur“

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Fragen nach dem Landeigentum und nach der Landverteilung und -nutzung sind seit jeher von allgemeiner, gesellschaftlicher Bedeutung. Hier setzt die gemeinnützige schweizerische Stiftung Edith Maryon an. Im Interview beleuchtet Dr. Ulrich Kriese die Ziele der Stiftung und gibt Einblicke ins Schweizer Baurecht bzw. Erbbaurecht.

ErbbauZ: Herr Dr. Kriese, können Sie uns bitte kurz die Stiftung Edith Maryon vorstellen?

Kriese: Unsere Stiftung, gegründet 1990, versteht sich im Kern als operativ tätige Bodenstiftung, das heißt sie übernimmt Grundstücke – Bauland, Wohn- und Geschäftshäuser, Zweckbauten aller Art, Gartenland, Bauernhöfe – mit dem Versprechen, sie dauerhaft zu halten, nicht spekulativ zu verwerten, und sie für einen sozialen Zweck zur Verfügung zu stellen oder jedenfalls auf sozial nachhaltige Art zu bewirtschaften. Unsere Projektpartner und Grundstücksnutzer sind Genossenschaften, Haus-GmbHs des Mietshäuser-Syndikats, Sozialunternehmen, gemeinnützige Organisationen – aber auch viele Privatpersonen. Dabei sind wir als Stiftung allerdings eher atypisch unterwegs: Gegründet wurde die Stiftung nämlich mit sehr wenig Geld – 12.000 Franken – und sie ist zugleich unternehmerisch und gemeinnützig tätig. Bis heute verdankt sie ihr Wachstum ihren vielen Zustifterinnen und Darlehensgeberinnen. So gelangte unsere Stiftung schon bald nach ihrer Gründung zu ersten Grundstücken und konnte sogar bauen. Rückblickend betrachtet ein kleines Wunder, aber so funktioniert unsere Stiftung bis heute: Eigentümer von Grundstücken wenden sich an uns auf der Suche nach einer sozialen Nachlasslösung, und Menschen, die Geld übrighaben, unterstützen die Stiftung bei der Finanzierung von Grundstückskäufen, Umbauten und Sanierungen. Neben alldem unterhalten wir einen Solidaritätsfonds für Mietkautionen mit inzwischen mehr als 10.000 Bürgschaften für Kautionen und sind seit 15 Jahren auch als Förderstiftung für Kunst und Kultur tätig.

ErbbauZ: Wer war denn die Namensgeberin der Stiftung?

Kriese: Edith Maryon war Bildhauerin. Sie stammte aus England und siedelte über in die Schweiz, nach Dornach bei Basel, wo sie in den 1920er Jahren eng mit Rudolf Steiner zusammenarbeitete und wichtige Aufgaben beim Bau des Goetheanum übernahm. Sie interessierte sich sehr für soziale Fragen der damaligen Zeit und rief in Dornach unter anderem ein soziales Wohnprojekt ins Leben. Als die Gründer unserer Stiftung 1990 auf der Namenssuche waren, fanden sie in Edith Maryon die passende Persönlichkeit.

ErbbauZ: Sie sagen, die Stiftung hat angefangen mit 12.000 Franken – und heute, nach gut 30 Jahren, hat sie eine Bilanzsumme von über 300 Millionen Franken. Wie konnte das gelingen? Hat die öffentliche Hand Ihre Stiftung mit Geld ausgestattet?

Kriese: Nein, Spenden vom Staat oder anderen öffentlichen Stellen gab es keine. Ich denke, mit ihrem Zweck, Grund und Boden zu sichern und im weitesten Sinne sozial zu verwenden, trifft die Stiftung seit 30 Jahren einfach bei vielen Menschen einen Nerv. Wir tun – ganz praktisch und unmittelbar – etwas gegen die Grundstücksspekulation und für den Erhalt bezahlbaren Wohn- und Gewerberaums – natürlich, gemessen an der Größe der Aufgabe, im noch immer viel zu kleinen Rahmen. Ich könnte auch sagen: Die Stiftung hilft auf eine Weise und an Stellen, wo der Staat versagt, sich zurückzieht, untätig bleibt. Land ist knapp und nicht vermehrbar. Pensionskassen, Versicherungen, Investmentfonds und viele andere privatnützige Investoren wissen nicht mehr, wohin mit ihrem Geld, stürzen sich – noch dazu getrieben von einer Nullzinspolitik – auf Land-Assets, überbieten sich dabei gegenseitig und treiben so die Grundstückspreise in die Höhe. Statt regulierend einzugreifen oder die Investoren wenigstens angemessen zu besteuern, verkaufen Staat und Kommunen weiter Grundstücke und haben beispielsweise erst kürzlich in Deutschland die Grundsteuer auf eine Weise reformiert, die das Halten und Liegenlassen und die Unternutzung von Grundstücken attraktiv hält. Staat und Kommunen schauen also nicht nur tatenlos zu, sondern tragen sogar mit dazu bei, dass günstiger Wohnraum immer knapper und Mieten immer teurer wurden. Da lag und liegt eine Stiftung wie die unsere, die sich entgegen dem Trend der Zeit dem Gemeinwohl verpflichtet, nahe. Deshalb kommen die Menschen zu uns. Dabei hilft uns natürlich, dass wir als gemeinnützig anerkannt sind, somit fällt auf Schenkungen und Erbschaften an die Stiftung keine Schenkungs- bzw. Erbschaftsteuer an – das gilt übrigens auch für Zustiftungen aus Deutschland. Doch sind es längst nicht nur Privatleute, die unsere Arbeit schätzen, auch institutionelle Partner mit einer sozial verantwortlichen Anlagepolitik finden inzwischen den Weg zu uns.

ErbbauZ: Das klingt sinnvoll und nachhaltig. Welche Projekte gehören zur Stiftung – vor allem welche Erbbaurechtprojekte?

Kriese: Rund 50 Projekte basieren auf einem Erbbau- bzw. Baurechtvertrag mit unserer Stiftung oder einer ihrer Tochterunternehmen als Landeigentümerin; die anderen knapp 100 Liegenschaften halten wir im Volleigentum und vermieten oder verpachten sie. In Deutschland finden sich unter den Erbbaurechtprojekten eine Reihe alternativer Gemeinschaftswohnprojekte in Berlin und Leipzig, außerdem in Berlin unter anderem das „Eine-Welt-Zentrum“, die alternative Kultur-Location „Schokoladen“ sowie das weithin bekannte ExRotaprint-Areal. In der Schweiz zählen zu unseren Baurechtpartnern (Anm. d. Red.: Das Schweizer „Baurecht“ entspricht dem deutschen Erbbaurecht) zwei Schulen, eine Bank, ein Theater, ein Tagungshaus, ein Kurhaus, ein Wohnheim sowie diverse Künstleratelierhäuser und Wohnhäuser.

ErbbauZ: Wie handhaben Sie das Erbbaurecht?

Kriese: Wir setzen das Erbbaurecht vielseitig ein und arbeiten immer einen auf das jeweilige Projekt zugeschnittenen, individuellen Vertrag aus. Regelmäßig findet man in unseren Verträgen einen gemeinwohlorientierten Nutzungszweck, den Ausschluss der Aufteilung in Wohnungseigentum sowie Vorkaufs- und gelegentlich auch Ankaufsrechte. Als Bodenstiftung gehören für uns darüber hinaus verschiedene Vertragsklauseln dazu, die eine spekulative Verwendung bzw. Verwertung des Erbbaurechts ausschließen. Ein geldwerter Vorteil, der dank günstigem Erbbaurecht beim Erbbaurechtnehmer entsteht, muss dem Gemeinwohl zugutekommen.

ErbbauZ: Die Stiftung Edith Maryon ist in der Schweiz und im angrenzenden Ausland engagiert. Wie gelingt der Spagat?

Kriese: Was Deutschland und Österreich anbelangt, ist der Spagat nicht allzu groß – dank gemeinsamer Sprache und gemeinsamem Rechtskreis. Viel größer – einmal abgesehen von der Sprache – sind die Unterschiede etwa zu Frankreich, mit seinem auf dem Code civil fußenden Rechtssystem, oder gar zum angelsächsischen Common Law. Dabei weiß ich, von was ich spreche: In Frankreich sind wir seit langem mit einem Projekt vertreten und in England ist derzeit eine Erbschaft zugunsten der Stiftung in Abklärung. Nicht allein das Recht, auch die administrativen Abläufe und Strukturen sind teils sehr anders als wir es von der Schweiz oder von Deutschland kennen. Doch das macht unsere Arbeit auch sehr lehrreich und spannend.

ErbbauZ: Wie sieht denn das Schweizer „Baurecht“ aus? Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zum deutschen Erbbaurecht?

Kriese: Das schweizerische Baurecht entspricht in den Grundzügen dem deutschen Erbbaurecht, wobei die rechtlichen Grundlagen mit wenigen Paragrafen im Zivilgesetzbuch abgehandelt werden. Es gibt einen wichtigen, erwähnenswerten materiellen Unterschied: Das Schweizer Baurecht kennt keine Schutzklauseln für Wohnnutzung. Der Akzeptanz und starken Verbreitung des Baurechts insbesondere in den größeren Städten und für den gemeinnützigen Wohnungsbau hat dies allerdings nicht geschadet. Und dann die Sprache: Einen schweizerischen Rechtstext zu lesen ist ein wahrer Genuss! Kurze, verständliche Sätze, Reduktion auf das Wesentliche – jeder angehende deutsche Juristin sollte hier eine Schulung durchlaufen! Der Umfang eines schweizerischen Baurechtvertrags etwa beträgt gerade mal ein Drittel bis die Hälfte des Umfanges eines deutschen Erbbaurechtvertrags. Im Vergleich zu Deutschland sind das schweizerische Baurecht und auch das übrige Vertragsrecht, jenseits der sprachlichen Qualität, viel weniger stark verrechtlicht. Denn in meiner Wahrnehmung spielt für schweizerische Vertragspartner der Aspekt der Partnerschaft eine größere Rolle als man es in Deutschland gewohnt ist. Der Wille und die Bereitschaft, bei Problemen oder Konflikten nicht gleich mit dem Anwalt zu kommen oder vor Gericht zu ziehen, sondern eine einvernehmliche Lösung unter Partnern auf Augenhöhe zu finden, sind in der schweizerischen Konsenskultur spürbar ausgeprägter.

ErbbauZ: Wie verbreitet ist denn das Baurecht in der Schweiz?

Kriese: Der Anteil der Baurechtsliegenschaften am gesamten schweizerischen Immobilienbestand wird von Experten auf fünf Prozent geschätzt und entspricht damit entsprechenden Schätzungen für Deutschland. Bekannte Hochburgen des Baurechts mit jahrzehntelanger Erfahrung sind unter anderem die Städte Zürich, Basel und Biel. Diese und auch viele andere Städte und Gemeinden geben ihr eigenes Land praktisch ausschließlich im Baurecht ab. Zwecks Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus haben einzelne Städte zudem eigene Vertragsmodelle entwickelt. Das Modell der Stadt Zürich beispielsweise gleicht eine tendenziell baurechtgeberfreundliche Heimfallregelung durch eine baurechtnehmerfreundliche Baurechtzinsgestaltung aus. Im Basler Modell teilen sich die Vertragspartner Risiken und Renditen proportional zum jeweiligen Beitrag der beiden Parteien beziehungsweise proportional zum Bodenwert einerseits und Substanzwert der Gebäude andererseits. Im Gegenzug für vergünstigte Konditionen verpflichten sich gemeinnützige Wohnbauträger auf die Einhaltung und Bereitstellung bestimmter Auflagen und Qualitäten, also etwa Belegungsbindungen, Kostenmiete, ökologische und gestalterische Qualitäten, halböffentliche und öffentliche Nutzungen, Rückstellungen für künftige Investitionen.

ErbbauZ: Ihre Stiftung ist auch gesellschaftspolitisch engagiert…

Kriese: Ja, wir thematisieren das in unseren Augen von Wissenschaft, Politik und Medien stark unterschätzte Problem der Bodenspekulation und Bodenrentenprivatisierung. Wir publizieren darüber, sprechen auf Seminaren, Konferenzen und Podien, leisten Aufklärungsarbeit und vermitteln Lösungsansätze. In Basel haben wir die „Bodeninitiative“ mitinitiiert, die 2016 von den Abstimmenden mit einer Zweidrittelmehrheit angenommenen wurde.

Das schweizerische Volksinitiativrecht sieht ja die Möglichkeit vor, außerparlamentarisch, aus der Zivilgesellschaft heraus auf die Gesetzgebung unmittelbar Einfluss zu nehmen und sogar ausformulierte Gesetze zur Abstimmung zu bringen. Mit unserer Initiative konnten wir den Kanton Basel-Stadt gesetzlich dazu verpflichten, sein Land dauerhaft zu halten, allenfalls im Baurecht an Dritte abzugeben, aber nicht mehr zu verkaufen. Seitdem kam es in zahlreichen weiteren Schweizer Städten und Gemeinden zu gleich und ähnlich lautenden Entscheidungen beziehungsweise Initiativen, darunter in Luzern und St. Gallen. Last but not least sind wir Mitgründer des Info-Netzwerks „Gemeingut Boden“, ein loser Zusammenschluss Schweizer Stiftungen und Organisationen zur Aufklärung der Öffentlichkeit über die Bodenfrage und die Möglichkeiten und Vorteile des Baurechts.

ErbbauZ: Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie sind Sie eigentlich zur Stiftung Edith Maryon und zum Baurecht gekommen?

Kriese: Nach meiner Promotion an der ETH Zürich war die Stiftung auf Mitarbeitersuche, da fanden wir zusammen. Mit meinem Hintergrund unter anderem im Planungsrecht und öffentlichen Baurecht waren mir das private Baurecht und das Erbbaurecht zwar schon damals ein Begriff, aber mehr auch nicht. So musste ich mich on the job reinfuchsen und möchte es heute nicht mehr missen. Es ist ein sehr spezielles, aber wunderbares Rechtsgebiet mit gefühlt unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten und einem meines Erachtens enormen sozialen und bodenpolitischen Potenzial.

ErbbauZ: Vielen Dank für das spannende Interview, lieber Herr Dr. Kriese!

Dr. sc. ETH Ulrich Kriese, Umwelt- und Verwaltungswissenschaftler sowie Landschafts- und Freiraumplaner. Mitglied der Geschäftsleitung der Stiftung Edith Maryon, Basel; Kuratoriumsmitglied der Stiftung trias, Hattingen (Ruhr). Mitherausgeber des Buches „Boden behalten – Stadt gestalten“ über die Bodenfrage, das (Erb-)Baurecht, öffentliches Bodeneigentum und gemeinnützigen Wohnungsbau.

Erschienen in: ErbbauZ 2022/1

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